Serbien: Unsere Festung muss runter! (CrossCultures 3)
Gastbeitrag von Rafael González García de Cosío
In der Belgrader Festung braucht man keinen Reiseführer einzustellen. Die Obdachlosen kommen auf die Touristen direkt zu und fragen nach der Uhrzeit. Das ist die beste Strategie, um Kontakt mit dem Besucher herzustellen, denn dieser tut sich menschlicherweise schwer, dem Mitmenschen die Zeitorientierung zu verweigern. Danach wirkt der Einheimische wegen des fremden Akzents überrascht und fragt nach der Herkunft.
Es ist ein Prozess: Der Obdachlose, der nicht rasiert ist, erzählt von einem Leben voller Reisen und Erfahrungen -auch wenn das nicht stimmt und nur eine Ausrede ist, um Geld zu bekommen.
Nun begleitet der Obdachlose die Touristen bis zu den versteckten Kirchen, Türmen und Ecken der Festung, und sagt, dass es sich um Orte handelt, die niemand ohne seine Hilfe findet. In Kalemegdan gibt es zum Beispiel die Kapelle der heiligen Petka, wo man heiliges Wasser trinken kann, das unter der Kapelle geholt und in Gläsern angeboten wird. Oder die Crkva Ruzika, eine orthodoxische Kirche, deren Hängelampe Kugeln aus dem jugoslawischen Krieg statt Glühbirnen hat. In einer orthodoxen Kirche lernt man zum Beispiel, dass sich nur die Alten setzen. Der Rest muss stehend beten.
Serbien ist auf den ersten Blick wegen des Krieges ein trauriges Land mit traurigen Menschen. Bei mancher Unterhaltungen denkt man, dass die Leute kein echtes Interesse haben zu reden. Das Wetter hilft auch nicht weiter: Der Regen, die Kälte und der graue Himmel, samt die zerstörten bzw. maroden Gebäuden geben einen traurigen Eindruck des Landes. Aber das sollte den Touristen nicht demotivieren. Wie jedes Land ist Serbien eine Herausforderung und manchmal erwartet den Ausländer eine nette Überraschung. Wie beim Friseur (3,50 EURO in der Innenstadt), wo die Kassiererin dem spanischen Kunden näher kommt und sich für sein Land interessiert. Nach wenigen Minuten verwandelt sich der Friseursalon durch Witze wie zum Beispiel über die Konkurrenz der Tennisstars Novac Djokovic und Rafael Nadal in eine explodierende Lachbombe.
Jedes Land hat unter seiner harten Schale seinen weichen Kern; man muss nur die Mauer unserer eigenen Festung abbauen, um ihn zu entdecken.
Eine Ursache für Probleme bei geschäftlichen – und auch bei privaten – Beziehungen in osteuropäischen Ländern ist die mangelnde Berücksichtigung kultureller Besonderheiten der Osteuropäer – berichtet Dr. Sylvia Schroll-Machl, eine anerkannte Osteuropa-Expertin. Die Diplompsychologin empfiehlt den westeuropäischen Geschäftspartnern die Strategie: „Erst beschnuppern, dann vertrauen, zuletzt verhandeln“. Ihre Untersuchungen zeigen, dass in den Ländern Mittel- und Osteuropas in erster Linie mit Emotionen entschieden wird. Diese Ebene muss der Westeuropäer erst erkennen, eher er in eine Geschäftsbeziehung eingeht – Fingerspitzengefühl ist gefragt. Schroll-Machl identifizierte acht typisch osteuropäische Verhaltensweisen, die in Verhandlungen zu Tage kommen. Sie beschreibt Verhaltensmuster wie u.a. Improvisationsstärke, Multitasking-Fähigkeit, schwankendes Selbstbewusstsein sowie Konfliktvermeidung als charakteristisch für Osteuropäer.
Demgegenüber warnt die Kulturanthropologin Dr. Joana Breidenbach davor, dass interkulturelle Trainings, in denen Werte und Verhaltensformen für ganze Bevölkerungsgruppen als typisch dargestellt werden, zur potentiellen Verfestigung von kulturellen Stereotypen führen können. „Ein bayerischer Bauer hat im Zweifel viel mehr Ähnlichkeiten mit einem slowenischen Bauern als mit einem Berliner Softwareprogrammierer“ – sagt sie in einem Interview. Sie empfiehlt, dass in interkulturellen Trainings auf keinen Fall die Nation als Einheit überbewertet werden sollte. Die Trainings sollten einen mehrdimensionalen Ansatz anbieten, bei denen die Dimensionen, entlang derer sich Menschen voneinander unterscheiden (wie Geschlecht, Alter, soziale Schicht, Behinderungen, etc.) ernsthaft berücksichtigt werden. Die Herkunftskultur sollte nur als eine Dimension unter vielen gelten.
Mehr dazu:
Schroll-Machl über kulturelle Besonderheiten in Osteuropa
Breidenbach über kulturelle Stereotype